Kirchenzeitung 01/2015 | Erzbistum Köln
KÖLN. „Wir erleben dort Gottesdienste in einer Tiefe und Dichte, wie man sie in der Gemeinde kaum findet“, sagt Ana Maria Preußer. „Man spürt manchmal richtig, wie die Menschen Gott in dieser Kapelle finden in ihrer Not.“ Seit 20 Jahren schon begleitet Preußer Patientinnen und Patienten der LVR-Klinik Merheim, einer Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, zum Gottesdienst in der hauseigenen Kapelle. „Man weiß nie, was einen erwartet“, sagt Karl Pallaske, der seit drei Jahren zum Kreis der Gottesdiensthelfer gehört. Neulich habe sich ein Mann mitten im Gottesdienst vor der Muttergottes-Statue auf den Boden geworfen und sei bestimmt zehn Minuten dort liegen geblieben. Was man da macht? „Nichts macht man da“, sagt Pallaske. „Liegen lassen.“ „Das Entscheidende ist, den Menschen mit Liebe zu begegnen“, sagt Ana Maria Preußer. „Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und vor allem nicht zum Lehrer aufzuspielen. Wer da liegt, tut doch niemandem was.“ Da könne man sich ein Beispiel nehmen an den anderen Patienten, die unerwartetem Verhalten von Mitpatienten oft mit erstaunlich großer Toleranz begegneten.
„Sich immer wieder einzulassen auf die jeweilige Befindlichkeit der Patienten, das erfordert eine hohe Flexibilität und eine Offenheit dem Neuen und dem manchmal ,verrückten‘ Verhalten der Menschen gegenüber“, sagt Gemeindereferentin Birgitta Daniles-Nieswand, die in der LVR-Klinik in der Seelsorge tätig ist. „Das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Gehen an die Ränder der Gesellschaft – in die Geschlossenheit der Stationen, die von der Gesellschaft getrennt sind.“ An der Türe dieser inzwischen nicht mehr „geschlossen“, sondern „geschützt“ genannten Abteilungen klingeln Preußer, Pallaske und die anderen nämlich, um Patienten abzuholen. Dass das „Gehen an die Ränder“ seit einiger Zeit eine ganz neue Popularität erfährt, merkt Pfarrer Karl-Hermann Büsch, Koordinator der Seelsorge für Menschen mit Behinderung im Stadtdekanat Köln. „Inklusion ist inzwischen ein gesellschaftliches Thema“, sagt er. „Und auch die Stimmung in der Kirche hat sich verändert seit der jetzige Papst im Präkonklave davon sprach, die Kirche müsse an die Ränder der menschlichen Existenz gehen.“ Auch früher schon sei klar gewesen, dass das sein müsse, „aber das war ein Bioptop am Rande – heute stehen wir damit im Mittelpunkt der territorialen Seelsorge“.
Büsch spricht von der „Glaubenskompetenz der Lädierten und Zerbrechlichen“. In Begegnung mit diesen Menschen habe sich das Evangelium entwickelt. Von daher sei der „Rand“ ein theologisch hoch relevanter Ort. „Wir gehen nicht aus einem Spleen heraus zu den Kranken, sondern weil dort der Kern des Evangeliums zu finden ist“, sagt Büsch.
Kathrin Becker
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