Kirchenzeitung 12/2004 | Erzbistum Köln
So richtig gespürt, dass es Gott wirklich gibt, hat Elisabeth Kremer erstmals in der Psychiatrie. „Schick mir einen Menschen, dem ich vertrauen kann”, betete die Kölnerin verzweifelt nach ihrer ersten Einweisung 1989. Eine Stimme habe ihr plötzlich gesagt „Lass dich fallen in Gott”, und dann hatte sie das Gefühl, von einem Schutzschild umhüllt zu werden. ,,Als ich das dem Arzt erzählt habe, hat der mir die Dosis erhöht”, erinnert sich die 49-Jährige. Auf offene Ohren stieß sie mit ihrer Erfahrung im Paulushaus des Erzbistums Köln. Seit fünf Jahren gibt es die Einrichtung für psychiatrieerfahrene Menschen, die in ihrer Art bundesweit einzigartig ist. In psychiatrischen Kliniken sei das Thema Religion oft tabu, oder es würden nur krankhafte Aspekte gesehen, weiß Karl-Hennann Büsch. Im Paulushaus, wo der katholische Ffarrer und Psychiatrieseelsorger mit sechs weiteren Mitarbeitern rund 300 psychisch kranke Menschen begleitet, ist dies anders. Schließlich ist das Paulushaus kein klinisch-therapeutischer Ort, sondern ergänzt als Stätte der Begegnung bestehende stationäre und ambulante Angebote.
„Hier hat das Religiöse seinen Raum”, erklärt der SO-jährige Seelsorger. Psychisch Kranke mit ihren „besonderen religiösen Erlebnissen” sollen sich hier nach ihrem Klinikaufenthalt aufgehoben fühlen.
Denn gerade durch die psychische Krise sei mancher „ganz nah an Gott dran”. Die Erkrankung habe eine „Totalität”, die – anders als ein gebrochener Finger – den ganzen Menschen betreffe, erklärt Büsch. In dieser existenziellen Situation brechen oft religiöse Fragen auf, etwa, was einen im Leben überhaupt noch trägt. Zudem verändert beispielsweise eine Psychose die Wahrnehmung der Realität, mitunter begleitet von Lichterfahrungen oder Gefühlen kosmischer Verbundenheit, aber auch vom Erleben von Schuld, von Verflucht- und Besessensein. Dies werde von den Menschen häufig als „zutiefst religiöse, geistliche, spirituelle Erfahrung erlebt”, beobachtet Büsch. Das Paulushaus ermögliche durch Gespräche und kreative Angebote, diese mitunter auch befremdlichen Erlebnisse „ins Leben zu integrieren”.
Thomas Kuhsel beispielsweise ist froh, „die Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst gefunden” zu haben. Diese biete ihm die Chance, etwas von jener Dimension zu „erden” und zum Ausdruck zu bringen, in der er sich aufgehalten habe. Sein Erleben in Phasen der Psychose, bei der er sich „wie in einem Zwischenreich” fühlt, setzt der 44-Jährige in Bildern und Gedichten um. Andere Besucher kommen zur Schreibwerkstatt, nehmen am meditativen Tanz teil oder üben sich in Ikonenmalerei. Nicht zuletzt wird der Austausch untereinander groß geschrieben.
„Hier treffen Hochsensible aufeinander und werden miteinander gesünder”, umschreibt Kuhsel das heilsame Konzept des Paulushauses. Der ehemalige Theologiestudent sieht die Einrichtung als Anlaufstelle für „Menschen, die mit dem Religiösen in Verbindung stehen”. Er schätzt die christliche und zugleich offene Atmosphäre. Das Paulushaus biete einen angstfreien Raum, „in dem Menschen einen spirituellen Weg miteinander gehen” und wo die ganze Bandbreite des Lebens akzeptiert werde.
Neben dem achtsamen Umgang miteinander schätzen die Besucher auch, dass man sie hier nicht auf ihre Defizite reduziert, sondern vielmehr ihre individuellen Stärken wahrnimmt. „Die gesunden Anteile werden hier durch die Angebote gefördert”, bestätigt Franka Schütz, die die Schreibwerkstatt besucht. Der Glaube habe der 60-Jährigen während ihrer manischen Phasen geholfen, „in einer anderen Weise einen Sinn in meinen Verletzungen zu sehen”. Pfarrer Büsch werde an seiner Wirkungsstätte „auf den Punkt gebracht”, weil der Glaube hier deshalb auch in ihren eigenen Leiderfahrungen nahe”.
Büsch fühlt sich auch für seinen eigenen Glauben „beschenkt”, dass er an einem solch authentischen Ort von Seelsorge arbeiten kann. Nicht zuletzt deshalb ist für ihn das Paulushaus ein „hochproduktiver, theologisch innovativer und missionarischer Ort”.
Psychische Erkrankungen bieten nach Beobachtung des Psychiatrieseelsorgers ein „Einfallstor für ungewöhnliche Erfahrungen”, in der das „Ich” aus seiner Alltagsfixierung geworfen werde – ein Phänomen. mit dem sich auch die Transpersonale Psychologie befasst. Auch viele Heilige und Mystiker wie Theresia von Lisieux und Johannes vom Kreuz hätten jene Ebenen jenseits des Tageswachbewusstseins durchschritten und danach ihr Leben ganz Gott gewidmet. Auch wenn es nicht der Alltag der Psychose sei: Auch psychisch kranke Menschen erlebten mitunter solche „Grenzphänomene”, die zu einer „tiefen persönlichen Glaubenshaltung” führten – „da steht man mit Respekt davor”. Elisabeth Kremer etwa hat für sich – trotz allem Leid, das sie in ihrem Leben durchstehen musste – ein „tiefes Wissen” gewonnen, dass es Gott gibt. Für sie war es vor fünf Jahren wie eine Erlösung, dass sie Ffarrer Büsch in der Psychiatrie kennen lernte und er sie auf das Paulushaus aufmerksam machte. Endlich hatte sie jemanden, mit dem sie über ihre Gotteserfahrungen reden konnte und der ihre verletzte Seele sah. „Wenn ich das Paulushaus nicht gehabt hätte, wäre ich heute tot”, ist die Kölnerin überzeugt. In den vergangenen Jahren habe sie sich hier „unheimlich entwickelt” und sei viel selbstbewusster geworden. Verrückt fühlt sie sich längst nicht mehr. Im Gegenteil: „Ich habe hier zu mir gefunden.”
ANGELIKA PRAUSS
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