Pflegende, Therapeuten und andere Mitarbeitende in Kölner Psychiatrien unternehmen unter der Leitung der Klinikseelsorge eine Exkursion zu der ehemaligen Tötungsanstalt in Hadamar. Der Bericht stellt Erfahrungen und Gestaltung von eintägigen Fortbildungsveranstaltungen dar. Die Begegnung an historischen Orten des Geschehens lassen das abstrakte Wissen über das nationalsozialistische Euthanasie-Programm konkret werden. Historische Information und Zeitzeugnisse führen in die Auseinandersetzung über Entwicklung und Bedingungen, unter denen es zu dieser organisierten Massentötung kommen konnte, und zu der Frage, wie Pflegende und Ärzte dabei mitwirken konnten. Bezüge zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen werden eröffnet.
Der 01. September 1939 ist auch ein Einschnitt in der Geschichte der Psychiatrie. Auf dieses Datum des Beginns der ersten Kriegshandlungen rückdatiert ist das fünfzeilige Schreiben an Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt, in dem Adolf Hitler diese beauftragt, Ärzte zu bestimmen und ihnen die Befugnis zu erteilen, »nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes (den) Gnadentod« zu gewähren. Dieses Schreiben ist das Startsignal für die systematische Ermordung körperlich und geistig schwer behinderter und psychisch kranker Menschen im nationalsozialistischen Deutschland.1
In Berlin wurden drei Tarnorganisationen gegründet: »die ›Reichsarbeitsgemeinschaft für Anstaltswesen‹, der die sechs vorgesehenen Tötungsanstalten und ihr Personal unterstellt waren, die ›Reichsarbeitsgemeinschaft für Heil- und Pflegeanstalten‹, von der aus die Begutachtung der Kranken per Fragebogen zur ›planwirtschaftlichen Erfassung‹ abgewickelt wurde, sowie die ›Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft‹, die die Verlegungen der Patienten in sogenannte ›Zwischenanstalten‹ und später in die Vernichtungsanstalten vornahm«. Nach ihrem gemeinsamen Sitz in der Tiergartenstraße 4 hieß die Aktion T4. Von 1940 bis 1941 wurden im Rahmen dieser Aktion ca. 70.000 Menschen ermordet. Das Wissen um dieses Geschehen in unserer jüngeren Geschichte ist in der heutigen Bevölkerung eher gering. Mir selbst war es nicht bewusst, als ich 1992 zum ersten Mal zu der Klinik fuhr, in der ich seit vielen Jahren als Krankenhausseelsorger tätig bin. Auf der Zufahrt kam ich am Schlot des dortigen Heizwerkes vorbei. Ein dumpfes Gefühl und Bilder von Krematorium, Leichenverbrennung, KZ (ich hatte als Jugendlicher Buchenwald besucht) stiegen in mir auf. Erst später sollte mir bewusst werden, dass diese dunkle Ahnung sich aus dem kollektiven Unbewussten unserer Gesellschaft speist, in das das (Halb-)Wissen um jene Vorgänge verdrängt ist.
Heute leben wir in Deutschland in einer Zeit, in der psychisch kranke und behinderte Menschen vielfältig versorgt sind in Akutkliniken, Wohnheimen und ergänzenden Einrichtungen im Gemeinwesen bis hin zu Inklusionsbemühungen. Für jüngere Mitarbeiter in den (sozial-)psychiatrischen Einrichtungen ist ›Euthanasie‹ der NS-Zeit zumeist ein Kapitel der Vergangenheit, von dem man im Unterricht an der Pflegeschule oder im Studium der Medizin, Psychologie oder Sozialarbeit gehört hat. Eine Verbindung zur eigenen Tätigkeit wird meist nicht empfunden. Als Seelsorger in psychiatrischen Krankenhäusern machten wir uns zunächst selbst auf den Weg nach Hadamar, um diesem Kapitel der Psychiatriegeschichte nachzugehen.
Die hier beschriebene Tagesveranstaltung führen wir seit vielen Jahren mit Mitarbeitenden der LVR-Klinik Köln, des Alexianer Krankenhauses und mit Mitarbeitenden sozialpsychiatrischer Einrichtungen in Köln durch. Es fahren jeweils um die 20 Personen mit. Anfahrtsziel ist die ehemalige Tötungsanstalt in Hadamar. In direkter Nachbarschaft zum heutigen Krankenhaus und zur forensischen Klinik befindet sich in den historischen Räumen der ehemaligen Anstalt seit 1991 die Dokumentations- und Gedenkstätte für die Opfer der NS-»Euthanasie«- Verbrechen, eine Einrichtung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen.
An diesem historischen Ort lässt sich dem Schicksal der ca. 15.000 Menschen nachgehen, die alleine hier zwischen Januar 1941 und August 1942 getötet wurden. Die Räume, durch die die Opfer geschleust wurden und schließlich den Tod fanden, sind hier begehbar. Zum anderen zeigt eine umfangreiche Ausstellung einen chronologischen Überblick über die Entstehung des bürgerlichen und nationalsozialistischen Gedankengutes sowie über die gesellschaftlichen Zusammenhänge, die zu dieser Aktion der »Ausmerze« und »Auslese« zur »Gesundung des Volkskörpers« führten. Zudem werden viele Einzelschicksale von Betroffenen und Beteiligten dargestellt, die die Besucher in eine intensive Auseinandersetzung führen.
Der Blick auf das singuläre historische Geschehen weitet sich auf Fragestellungen von heute: auf die latente Diskussion über die Kosten im Gesundheitssystem, auf die um sich greifende Pränatal-Diagnostik, auf die Euthanasieverfahren in einigen europäischen Ländern. Hier in Hadamar, wo in den historischen Räumen der Euthanasie bis in die Achtzigerjahre ein Behindertenheim geführt wurde und wo direkt angrenzend die heutige psychiatrische Klinik und Forensik betrieben wird, eröffnen sich auch Fragestellungen zum heutigen Umgang mit Aussonderung, Sicherheitsverwahrung, Zwang und Freiheitsentzug von kranken und als gefährlich geltenden Menschen. Das je eigene Bild vom und die Haltung zum Menschen werden hier angefragt.
Auf diesem Hintergrund entstand das Projekt, mit Pflegenden, Therapeuten, Sozialarbeitern und Verwaltungsangestellten eine Exkursion nach Hadamar anzubieten. Denn: Wer sich mit diesem Teil unserer Geschichte mehr vertraut gemacht hat, kann seine Verantwortung und Haltung zu den anvertrauten Menschen und zu relevanten gesellschaftlichen Fragen anders reflektieren. Wir führen die Exkursionen in Zusammenarbeit mit den Kliniken und ihrer innerbetrieblichen Fortbildung durch. Die Teilnehmergruppe besteht meist aus Pflegenden, Ergotherapeuten und Sozialarbeitern. Ärzte und Ärztinnen sind leider kaum vertreten.
Etwa eine Woche vor der Exkursion laden wir zu einem einstündigen Vorbereitungstreffen ein. Dies scheint uns nötig, um einige Grundinformationen zu geben, aber auch, um die Teilnehmer auf den emotional anstrengenden Fortbildungstag vorzubereiten. Nach kurzen Informationen über die Geschichte in Hadamar und die Gedenkstätte zeigen wir den Film »Transport in den Tod – über das Schicksal ›verlegter‹ Psychiatriepatienten im Rheinland 1939–1945«. Dieser Dokumentarfilm mit einer Länge von 25 Minuten wurde 1994 im Auftrag des Landschaftsverbandes Rheinland hergestellt.2 Er zeigt auch mit Archivmaterial der ehemaligen Provinzial-Heilanstalten und mithilfe des NS-Propaganda-Materials das Gedankengut, das der »Euthanasie«-Aktion den Weg bereitete. Er beleuchtet die Welle der Zwangssterilisationen, die Frauen gemäß dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses « seit 1933 über sich ergehen lassen mussten. Sodann wird dargestellt, wie die Krankenmorde durch die Aktion »T4« systematisch organisiert wurden: durch die Erfassung mit Meldebögen in allen Provinzialheilanstalten, durch die Massenverlegungen kreuz und quer durch das Rheinland und Hessen, mit denen die Tötungsabsicht verdeckt und Nachverfolgungen durch Angehörige erschwert wurden. Die Transporte der grauen Busse, die bis August 1941 ca. zweitausend Patienten nach Hadamar brachten, werden mit ihrer beklemmenden Realität ins Bild gebracht. Auch betroffene Anstaltspfleger, besorgte Eltern und die betroffenen Heimbewohner, die oft um ihr nahes Schicksal wussten, kommen durch ihr Zeugnis in Briefen oder Tagebucheintragungen zu Gehör. Es werden dann die letzten Wege der Opfer durch die Abteilungen der Tötungsanstalt nachgegangen: Entkleiden, »ärztliche Untersuchung « – und dann meist der Gang in den Keller. Dort starben die Patienten in einem – als Desinfektionsdusche getarnten – engen Raum durch einströmendes Gas.
Durch die Proteste vor allem aus Kreisen der Kirchen, allen voran durch den Bischof von Münster, Kardinal Graf von Galen, musste sich ab August 1941 das Regime vorsichtiger verhalten. Die offensichtlichen Transporte wurden reduziert, das Morden mit Giftgas wurde eingestellt. Es kam danach zu einer zweiten Phase der »Euthanasie« zwischen 1942–1945: In Hadamar und anderen Tötungsanstalten wurde weiter gemordet durch das systematische Verabreichen von Giftspritzen und durch gezieltes Einstellen von Pflege und Ernährung. Unter dem Druck, Platz für ausgebombte Menschen zu schaffen, geschah dieses Töten auch in »ganz normalen Kliniken, unter den Augen und unter Beteiligung ganz normaler Ärzte, Pfleger und Verwaltungsbeamten «.3
Der Film schließt mit einem Blick auf die Täter: Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger. Nur wenige wurden nach 1945 von alliierten oder deutschen Gerichten verurteilt. Der Film löst bei den Zuschauern meist Betroffenheit, Beklemmung und Fragen aus. Im anschließenden Gespräch können diese Gefühle und weitergehende Fragen zur Exkursion benannt werden. Bei den Teilnehmenden ist durch den Film Interesse und eine innere Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der Psychiatriegeschichte und seinen Relevanzen für heute geweckt.
Morgens um acht Uhr geht’s los mit einem Reisebus. Wir fahren auf der A3, dem Verkehrsweg, auf dem damals die Patienten in den grauen Bussen mit weißgetünchten Fenstern von der Anstalt Galkhausen / Langenfeld nach Hadamar transportiert wurden.
Mit Hilfe anonymisierter Patientendaten, die von der Dokumentationsstelle zur Verfügung gestellt wurden, haben wir für jeden Mitfahrenden eine Gedenkkarte zusammengestellt. Sie erinnert an eine Person, die auf diesem Weg in den Tod fuhr. Jeder Teilnehmer ist eingeladen, sich diese Person in seiner Phantasie vorzustellen. Aus der Masse der Toten kann so zu einer Person eine Beziehung entstehen. Beispiel: Katharina T., geb. 13.5.1904, Köln-Poll; Sterbedatum 6.12.1942 in Hadamar; Sterbeursache: Lungenentzündung; Unterbringung: Bonn – Köln (Psychiatrische Klinik Lindenburg) – Kloster Hoven – Hadamar; Diagnose: Geisteskrankheit, Lungenentzündung; Behandlung: Sterilisation Bonn 1935 Frauenklinik.
Über das Bord-Mikrofon geben wir während der 90-minütigen Fahrt – dosiert und mit guten Pausen – Informationen und Impulse. Diese informative und emotionale Vorbereitung während der Busfahrt haben wir gewählt, zum einen, um die Zeit zu nutzen, zum anderen, um die Teilnehmenden am Tag selbst einzustimmen auf die Begegnung mit den Schicksalen in der ehemaligen Tötungsanstalt, der wir entgegenfahren. Sie werden in Teilen hier wiedergegeben, um so den Leser auf diesen Weg mitzunehmen.
Bei Siegburg wird ein erster Impuls gegeben. Hier sieht man während der Fahrt auf den Michaelsberg mit dem Benediktinerkloster. Wir erinnern daran, dass nach der Säkularisation in diesem Klosterareal die erste psychiatrische Provinzialheilanstalt der Rheinprovinz für ca. 30 Jahre ihren Ort hatte. Nachfolgeeinrichtungen wurden die Anstalten in Bonn und Andernach. Mein Kollege erinnert an eine persönliche Anekdote aus den 1970er Jahren. Seine Verlobte erzählte vor der Heirat, dass ein Verwandter von ihr wegen Depressionen lange Patient in der Anstalt Andernach war. Verlegen fragte sie: »Ob wir da überhaupt heiraten dürfen?« Das Stigma der psychischen Krankheit als Erbkrankheit wirkt weiter.
Bei der Überquerung der Wiedbrücke erinnern wir an die Heilanstalt in Waldbreitbach, die in die Kette der Verlegungsanstalten einbezogen wurde. Wir reichen eine selbsterstellte Grafik zur Ansicht herum. Darauf sind mit Verbindungslinien die Transportwege zwischen den Anstalten dargestellt, in welche die Personen auf unseren Gedenkkarten verlegt wurden, für jede Verlegung ein Strich. Man sieht die vielen Linien hin und her, dann gehäufte Linien nach Galkhausen, von dort nach Hadamar. Die Angehörigen der Opfer wurden darüber nicht informiert. In den Todesmitteilungen wurde verschleiernd gesagt, die Verlegungen erfolgten wegen des Drucks der Kriegsereignisse.4
Während sich der Bus Hadamar nähert, werden Zeitzeugnisse von beteiligten Menschen vorgelesen. Der originale Wortlaut5 vermittelt den Mitfahrenden eine annähernde Einfühlung in die Vorgänge und das Erleben des Anstaltspersonals sowie der Menschen, die hier so grausam verschickt wurden.
»Im Januar 1940 treffen in immer mehr Anstalten die Meldebögen ein. So auch in den Hoffnungsthaler Anstalten in Lobetal … Pastor Paul Braune schöpft sofort Verdacht: ›Es fiel uns dabei auf, daß die Fragebogen nicht auf dem üblichen Dienstwege über die Regierung und den Kreisarzt kamen, sondern direkt von einer Stelle des Reichsinnenministerium … Die Fragebogen ließen uns ahnen, daß Maßnahmen zur Verlegung der Kranken ohne Rücksicht auf sonstige Interessen geplant waren.‹« 6
»In anderen Anstalten beginnt der Abtransport. Am 29. Januar schreibt der Arzt Dr. Joos aus der württembergischen Anstalt Weinsberg seinem Kollegen Gutekunst von der Anstalt Winnenthal:
›Inzwischen ist die Angelegenheit, die mich zum Schreiben veranlaßt hat, in ein weiteres Stadium getreten unter Begleitumständen, die einen immerhin sehr bedenklich stimmen müssen. Ich bekam anfangs voriger Woche rasch nacheinander zwei Listen mit je 26 Patienten mit der Mitteilung, sie würden in den nächsten Tagen von einer Krankentransport–G.m.b.H. in Kraftwagen abgeholt … Es handelt sich fast ausnahmslos um schwere stumpfe Defektzustände. Am Donnerstag kamen zwei große Autobusse und luden die Leute ein, nur weibliche Patienten, es war eine sehr traurig anmutende Unternehmung, ziemlich wenig zünftiges Personal. Das Wohin blieb im Dunkel …‹« 7
»Eine Patientin der Anstalt Stetten schreibt diesen Brief: ›Liebe Eltern und Geschwister! Ich lebe in einer Angst, weil die Autos wieder hier waren … Das sind keine Vermutungen, das ist alles wahr, was ich berichte, die Regierung will nicht mehr so viele Anstalten, und uns wollen sie auf die Seite schaffen …‹« 8 Eine Patientin aus der Anstalt Liebenau schreibt in einem Abschiedsbrief: »Innigst geliebter Vater! Leider ging es nicht anders. Meine Abschiedsworte aus diesem irdischen Leben in die ewige Heimat muß ich also heut an Dich richten. Es wird Dir und den Meinen viel, viel Herzweh bereiten. Aber denke daran, daß ich als Märtyrin sterben darf, was nicht ohne den Willen meines göttlichen Erlösers geschieht, nach welchem ich mich Jahre lang sehnte. Vater, guter Vater, ich möchte nicht von hinnen scheiden, ohne Dich und alle meine lieben Geschwister nochmals um Verzeihung zu bitten, für das, was ich mein ganzes Leben hindurch an Euch gefehlt habe. Möge der Herr meine Krankheit und dieses Opfer als Sühne dafür annehmen … Vaterle, ich geh mit festem Mut und Gottvertrauen und zweifle niemals an seiner guten Tat, welche er an uns ausübt, welche wir leider hienieden nicht verstehen. Uns wird der Lohn zuteil am jüngsten Tage. Gott befohlen! … Dein Kind Helene.« 9
»Was aber können jene geben, die von ihren Patienten um Hilfe angefleht werden? ›An eine Patientin namens G. erinnere ich mich ebenfalls. Ich hatte am Tag vor dem Abtransport nicht den Mut, dieser Patientin mitzuteilen, daß sie auf der Transportliste stehe. Die Patientin litt an Schizophrenie … Von Erregungszuständen abgesehen, war sie sehr angenehm, außerordentlich fleißig, und man konnte sich mit ihr gut unterhalten … Als ich der Patientin am Tag, an dem der Transport wegging, ihr mitteilte, sie würde verlegt, fiel sie mir weinend um den Hals und klagt mir, sie werde nun getötet werden. Sie erklärte, ich möchte ihr doch helfen, sie müsse sterben und würde doch so gerne leben … Ich habe Medizinalrat Pflüger herbeigerufen, und dieser gab ihr eine beruhigende Einspritzung. Die Patientin wurde dann im Halbschlaf in das Auto gebracht.‹« 10
Der Bischof von Limburg, Antonius Hilfrich, schreibt im August 1941 an den Reichsminister des Inneren, Franz Gürtner: »Bezugnehmend auf die von dem Vorsitzenden der Fuldaer Bischofskonferenz, Herrn Kardinal Dr. Bertram, eingereichte Denkschrift vom 16. Juli halte ich mich für verpflichtet, betreffend Vernichtung sogenannten »lebensunwerten Lebens « das folgende als konkrete Illustration zu unterbreiten: Etwa 8 km von Limburg entfernt ist in dem Städtchen Hadamar auf einer Anhöhe unmittelbar über dem Städtchen eine Anstalt … umgebaut und eingerichtet worden als eine Stätte, in der nach allgemeiner Überzeugung Euthanasie seit Monaten – etwa seit Februar 1941 – planmäßig vollzogen wird. Über den Regierungsbezirk Wiesbaden hinaus wird die Tatsache bekannt, weil Sterbeurkunden von einem Standesamt Hadamar-Mönchsberg in die betreffenden Heimatgemeinden gesandt werden. Öfter in der Woche kommen Autobusse mit einer größeren Anzahl solcher Opfer in Hadamar an. Schulkinder in der Umgegend kennen diese Wagen und reden: ›Da kommt sie die Mordkiste‹. Nach der Ankunft solcher Wagen beobachten dann die Hadamarer Bürger den aus dem Schlot aufsteigenden Rauch und sind von dem ständigen Gedanken an die armen Opfer erschüttert, zumal wenn sie je nach Windrichtung von den widerlichen Düften belästigt werden … Es ist der Bevölkerung unfaßlich, daß planmäßig Handlungen vollzogen werden, die nach § 211 Str.G.B. mit dem Tode zu bestrafen sind! … Ich erbitte Sie ergebenst, Herr Reichsminister, im Sinne der Denkschrift des Episkopates vom 16. Juli d. Js. weitere Verletzungen des fünften Gebotes Gottes verhüten zu wollen.« 11
Im Gelände der heutigen Vitos-Kliniken mit der Gedenk- und Dokumentationsstätte in Hadamar angekommen, gibt es eine Tasse Kaffee. Es folgt in einem der Unterrichtsräume die Begrüßung durch einen Mitarbeiter der Gedenkstätte und ein Info-Vortrag. Mit Lichtbildern werden Dokumente gezeigt, die die zeitgeschichtlichen Hintergründe beleuchten, die zu der T4-Aktion geführt haben. Einige seien hier nochmals genannt: 12
Nach diesen Schlaglichtern auf die zeitgeschichtlichen Entstehungsbedingungen der nationalsozialistischen Tötungsaktion an Kranken und Behinderten folgt dann eine erzählende Darstellung über die Vorgänge und Abläufe in der hiesigen Tötungsanstalt. Diese Fakten werde ich in die Beschreibung des folgenden Rundgangs mit aufnehmen. Schon während des Vortrages stellen die Teilnehmenden Zwischenfragen und können sich so einbringen. Am Ende des Informationsteiles wird in der Aussprache häufig gefragt: Wie kam das Personal, Ärzte und Pflegende, zu dieser Arbeit – freiwillig? Wie hielten sie das aus? Wusste man in der Stadt von den Vorgängen in der nahen Anstalt?
Der Rundgang durch die baulich erhaltenen Räume beginnt im Zufahrtshof hinter dem Hauptgebäude. Dort ist heute auf dem Grundriss der ehemaligen Ankunftsbaracke eine offene Holzträgerhalle aufgebaut. Auf Fotos sieht man die alte Baracke, in der die grauen Busse mit den Patienten einfuhren. Sie wurde verschlossen, so dass niemand einsehen und kein Patient flüchten konnte. Wir kommen vorbei an den Aufenthaltsräumen des Personals, das in der Tötungsanstalt arbeitete und in ihr kaserniert war, um möglichst wenig Kontakte zum Umfeld zu ermöglichen. Inschrift im durchschreitbaren »Denkmal der grauen Busse«
Durch eine Schleuse gelangten die Patienten in einen großen Saal mit dem Aussehen eines Krankenzimmers. Hier mussten sie sich für die ärztliche Untersuchung entkleiden. Mit einem Militärmantel bekleidet gingen sie zunächst ins Fotozimmer, dann ins Arztzimmer. Der Arzt traf mit einem kurzen Vermerk die Entscheidung zur Tötung oder deren Aufschiebung.
Die Besuchergruppe hat nun den emotional schwersten Teil vor sich: den beklemmenden Weg über die Treppe in den Keller. Hier starben die Patienten in einem als Desinfektionsdusche getarnten engen Raum durch einströmendes Gas. Diese gräulichen Taten können die Mitarbeiter der Gedenkstätten hier mit aller Einfühlung nur nüchtern beschreiben. Die Teilnehmer werden still, betroffen, und bleiben doch interessiert dabei, auch wenn sie einen Raum weiter vor einem steinernen Seziertisch stehen. Die Tötungsaktion war ja auch medizinisch begründet und diente bei allen heutigen Vorbehalten der damaligen wissenschaftlichen Forschung. Den Getöteten wurden hier Gehirn und andere Organe entnommen, eingelegt und zu zahlreichen Universitäten gefahren, wo sie noch bis in die 1980er Jahre für Präparationskurse zur Verfügung standen.
Durch einen weiteren Kellergang kommt die Gruppe zu den Brennöfen des Krematoriums. Allerdings steht hier kein Ofen mehr, sondern eine Fotographie in Originalgröße zeigt die beiden Öfen, die an dieser Stelle standen. Sie wurden von den »Brennern« zeitweise 24 Stunden um die Uhr befeuert. Nach 1942 wurden sie hier abgebaut und in einem Konzentrationslager wieder aufgebaut.
Hier wie auch bei der Gaskammer wird deutlich, dass die Tötungsaktion an kranken und behinderten Menschen eine Erprobung für die Massentötung an den jüdischen Bevölkerungsteilen in Europa war. Denn auf das Personal sowie die hier gemachten Erfahrungen mit dem Töten durch Gas wurde ab 1942 in den Vernichtungslagern systematisch zurückgegriffen.14
Am Ende des Rundgangs kann zum Gedenken eine Stele angeschaut werden. Hier sind stellvertretend drei Personen mit Foto vorgestellt, deren Leben hier in Hadamar endete. Die Teilnehmer haben noch Zeit zum Verweilen, zum Austausch oder können einen der Orte nochmals still aufsuchen. Dann braucht es eine Pause zum Abschalten.Das gemeinsame Mittagessen in der Klinikkantine kommt sehr gelegen.
Nach dem Mittagessen können die Teilnehmer einzelne Aspekte in der umfangreichen Dokumentationsausstellung für sich vertiefen. Sehr wichtig ist uns dann, dass hinreichend Zeit für eine Aussprache ist. Dazu ist eine Gruppengröße von acht bis zehn Personen hilfreich. Wie bin ich jetzt da? Welche Stimmungen und Emotionen schwingen noch nach? Was hat mich beeindruckt? Welche Fragen beschäftigen mich jetzt? In einer Anhörrunde hat jeder Teilnehmer die Möglichkeit sich zu äußern. Dies ist wichtig, damit jeder Teilnehmende seine / ihre Emotionen ins Wort bringen kann. Neben der emotionalen Resonanz werden dann oft Fragen laut: Warum wurden so wenige vor Gericht verantwortlich gemacht und bestraft? Wie kam es, dass erst so spät in den 1980er Jahren diese Geschichte in Hadamar aufgearbeitet wurde? Wie konnten Ärzte und Pflegende da mitmachen?
Zu dieser Frage kann die Gruppe nochmals anhand eines Blattes mit Textauszügen der Selbstaussage einer in Hadamar beteiligten Krankenschwester arbeiten. Diese Aussagen zeigen, dass die Beteiligten oft kein Unrechtsbewusstsein hatten oder zeigten. Sie waren als »erfahrene Krankenschwestern « angeworben worden, »da sie die Krankheitsbilder ja genau kennten und beurteilen könnten, daß es für die Schwerstkranken eine Erlösung sei, wenn man ihr Leben vorzeitig beende. Wir wurden dann gefragt, ob wir mitarbeiten wollten und nach einer Viertelstunde Bedenkzeit vereidigt, und unter Androhung schwerster Strafen zur Verschwiegenheit verpflichtet.«15 »Man kann mich nicht verantwortlich machen, für diese Gesetze des Dritten Reiches, daß dessen Bestimmungen nicht vollkommen waren, ist schließlich nicht Sache einer Schwester. Vor der Schwester am Krankenbett steht der Arzt. Ob er einen Brustwickel, Einlauf, Herztropfen oder Schlafmittel verordnet. In diesem Fall den Gnadentod. Ich habe den Gnadentod nicht als Mord betrachtet …«16
Diese Aussagen setzen eine Diskussion über Gehorsamshierarchie, Berufsethos als Arzt und Pflegende bis hin zum handlungsleitenden Menschenbild in Gang. Auch aktuelle Bezüge zur Problematik der Pränataldiagnostik, Eugenik und Sterbehilfe bis hin zur Diskussion um das Diktat der Wirtschaftlichkeit in der Gesundheitsversorgung werden von den Teilnehmenden gezogen. Es wird klar, dass die Frage nach lebenswertem und schützenswertem Leben auch in unserer heutigen Gesellschaft und im beruflichen Handeln in Gesundheitswesen oder Behindertenhilfe nicht unstrittig ist und hohe Relevanz hat.
Zum Abschluss des Aufenthaltes in Hadamar gehen wir auf das Gräberfeld, das heute als Gedenkstätte für die Toten von Hadamar hergerichtet ist. Auf dem Hang hinter dem Gebäude wurde in jener Zeit die Asche der Toten ausgeschüttet und wurden die Toten der zweiten Mordphase in Massengräbern verscharrt. Das Gelände führt über Stufen bergan. Oben öffnet sich ein mit Sträuchern und Gras bewachsenes Gelände. Grabsteine entlang des Weges repräsentieren mit ihren Symbolen die großen Religionen und Religionsgemeinschaften. Der Platz weitet sich auf eine große Stele hin. »Mensch achte den Menschen«, lautet die Inschrift. Jenseits des Mauertores wiegen sich Raps oder Korn in Wind und Sonne. Der Blick geht über die hessische Hügellandschaft. Vor der Stele halten wir im Halbkreis inne. Ein Gebet, gefunden im Frauenkonzentrationslager in Ravensbrück, wird verlesen. Alle Teilnehmenden legen ihre Identitätskarte mit dem Namen eines in Hadamar gestorbenen Menschen – beschwert mit einem Stein – vor der Stele ab. Wir verneigen uns vor den Opfern in Hadamar.
Nach diesem emotional anstrengenden Besuch braucht es ein Kontrastprogramm. Wir fahren mit dem Bus in die schöne mittelalterliche Stadt Limburg. Wer will, nimmt an einer Domführung teil oder geht mit anderen auf einen Bummel durch die Stadt. Um 17.00 Uhr fährt der Bus zurück nach Köln.
Wenn wir am Ende der Exkursion fragen, was die Teilnehmer als Gewinn oder innere Bewegung mitnehmen, so wird meist benannt, dass es wichtig war, dieses schwere Kapitel der Psychiatrie- Geschichte an sich herangelassen zu haben. Für viele wurde diese Exkursion zu einer Begegnung: Hinter den nüchternen Zahlen und über den historischen Abstand hinweg konnten sie erfühlen, dass es hier um einzelne Menschen ging. Manche Teilnehmer konnten sich eine konkrete Person aus ihrem Arbeitsfeld vorstellen, die damals unter den Opfern gewesen wären. Vor zehn Jahren sagte ein Exkursionsteilnehmer, er habe an einen achtzigjährigen Heimbewohner denken müssen. Mit seiner Erkrankung hätte er damals kaum eine Überlebenschance gehabt. Die am Anfang der Exkursion ausgeteilte Identitätskarte ermöglichte den Teilnehmern die Identifikation mit einem Menschen. Ihm oder ihr zu gedenken, das war ein bedeutsamer innerer Vollzug.
In vielen Gesprächen wurde gefragt, wie die Kategorie »lebensunwert«, die auch heute in den Diskussionen wieder auftaucht, damals so bedeutsam werden konnte. Auf dem Hintergrund des in den Eliten der Gesellschaft gängigen Denkens in Rasse- und Wirtschaftlichkeitskategorien konnte die NS-Propaganda von den »unnützen Essern« und den »lebensunwerten Kreaturen« Plausibilitäten und Phantasmen schaffen, hinter denen der einzelne Mensch in seiner Würde und mit seinem Lebensrecht unsichtbar wurde. In diesem Klima wurden Ziele und Vorgehen nicht in Frage gestellt. Alles wurde den »kriegswichtigen« Zwecken untergeordnet. Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger sowie Verwaltungsangestellte folgten oft diesen Plausibilitäten. Viele Teilnehmer betonten, wie wichtig, aber auch mühsam es ist, heutige Denkmuster zu hinterfragen.
»Mensch achte den Menschen« – der Blick auf den Einzelnen mit seinen Grenzen und der Fragmenthaftigkeit seines Lebens gibt ihm Ansehen, Würde und Lebensrecht – eine Exkursion und ein Diskurs, die sich lohnen.
Literatur und Links finden Sie in der PDF-Datei.
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